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Das Endocannabinoid-System: Bedeutung und Einfluss auf die Gesundheit

  • 7 Minuten Lesezeit
  • Allgemein

Was ist das Endocannabinoid-System?

Das Endocannabinoid-System (ECS) ist ein fundamentales Steuerungssystem im menschlichen Körper und tief in unserer Evolution verwurzelt. „Endo“ ist abgeleitet aus dem Griechischen für „innen“ oder „innerhalb“ und bedeutet in diesem Kontext „körpereigen“.

Beim Menschen beeinflusst das ECS unter anderem Schlaf, Stimmung, Appetit, Schmerzempfinden, Entzündungen, Gedächtnis und das Immunsystem [1–4].

Die Wirkweise erfolgt über körpereigene Cannabinoide, sogenannte Endocannabinoide, sowie über die spezifischen Rezeptoren CB1 und CB2. CB1-Rezeptoren kommen vor allem im zentralen Nervensystem vor (z. B. Gehirn und Rückenmark), während CB2-Rezeptoren überwiegend auf Immunzellen und in peripheren Geweben sitzen.

Gemeinsam regulieren sie die Ausschüttung von Neurotransmittern wie Dopamin, Endorphinen oder GABA [5,6].

Darüber hinaus zeigen aktuelle Studien zu Cannabis bei Schlafstörungen, dass Cannabinoide wie THC und CBD auch als Modulatoren des Schlaf-Wach-Rhythmus wirken können. Insbesondere Anandamid scheint den Non-REM-Schlaf zu fördern, während 2-AG mit der Regulation des REM-Schlafs in Verbindung gebracht wird [17].

Ein dritter, oft übersehener Bestandteil des ECS sind die abbauenden Enzyme – insbesondere FAAH (Fettsäureamid-Hydrolase) und MAGL (Monoacylglycerollipase). Sie sorgen dafür, dass Endocannabinoide wie Anandamid und 2-AG nach ihrer Wirkung rasch wieder abgebaut werden, um ein Gleichgewicht im Körper (Homöostase) zu erhalten.

Gerade bei posttraumatischer Belastungsstörung wird innerhalb der Behandlung mit Cannabis bei PTBS zunehmend erforscht, wie eine gezielte Modulation dieser Enzyme durch Cannabinoide therapeutisch wirksam sein kann.

Schema des Endocannabinoid-Systems

Schematische Darstellung: Endocannabinoide und Phytocannabinoide binden an Rezeptoren im Nervensystem

Endocannabinoid-System (ECS) – Steckbrief

Hauptbestandteile Endocannabinoide (z. B. Anandamid, 2-AG), Cannabinoid-Rezeptoren (CB1, CB2), Enzyme (FAAH, MAGL)
Funktion Regulation von Homöostase, Schmerzempfinden, Appetit, Schlaf, Stimmung und Immunantwort
Rezeptoren CB1 (zentrales Nervensystem), CB2 (Immunsystem), GPR55, TRPV1 (indirekt)
Endogene Liganden Anandamid, 2-AG
Abbau FAAH (für Anandamid), MAGL (für 2-AG)
Medizinische Relevanz PTBS, Migräne, Schlafstörungen, Depressionen, Angststörungen, Reizdarmsyndrom
Entdeckung CB1 (1990), CB2 (1993), Anandamid (1992), 2-AG (1995)
Besonderheiten Das ECS reguliert zentrale Körperfunktionen und interagiert mit anderen Neurotransmittersystemen
ECS Spinnendiagramm

Wirkprofil der CB1- und CB2-Rezeptoren im ECS

Quellen:
[1] Lowe et al. 2021, Int J Mol Sci. [PMID: 34502379]
[2] Russo EB 2016, Cannabis Cannabinoid Res. [PMID: 28861491]
[3] Wu J. 2019, Acta Pharmacol Sin. [PMID: 30670816]
[4] Stampanoni Bassi et al. 2018, Front Mol Neurosci.
[5] Di Marzo V. 2008, Nat Rev Drug Discov.

Mögliche Folgen eines Endocannabinoid-Mangels

Ein Mangel an körpereigenen Cannabinoiden kann nach heutiger Forschung mit einer Vielzahl chronischer Beschwerden einhergehen. Die Theorie des klinischen Endocannabinoid-Mangels (CECD) geht davon aus, dass Erkrankungen wie Migräne, Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom, Depressionen oder Angststörungen durch eine Fehlregulation im ECS begünstigt werden könnten [7–12].

Besonders bei dem gezielten Einsatz von Cannabis gegen Migräne, stützen aktuelle Forschungsergebnisse diese Hypothese: So wurden bei Betroffenen signifikant reduzierte Anandamid-Konzentrationen im Liquor nachgewiesen, was auf eine gestörte endogene Cannabinoid-Signalisierung hinweist [18].

Wie helfen THC und CBD bei einem gestörten ECS?

Pflanzliche Cannabinoide wie THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) spielen eine wichtige Rolle bei der Regulierung von physischen und psychischen Funktionen. THC wirkt auf die gleichen Cannabinoid-Rezeptoren wie das körpereigene Cannabinoid Anandamid (AEA), während CBD den Spiegel der körpereigenen Cannabinoide erhöhen kann [13, 14]. Auch moderate körperliche Aktivität kann nachweislich die Endocannabinoid-Spiegel erhöhen [15].

Diese Erkenntnisse zeigen, dass Cannabinoide elementare Bestandteile unseres biologischen Systems sind. Sowohl Menschen als auch die Cannabispflanze produzieren Cannabinoide, die für unsere Gesundheit entscheidend sind.

Es ist daher nicht korrekt zu sagen: „Mit Cannabis habe ich nichts zu tun.“ Jeder Mensch ist vielmehr eine natürliche „Cannabinoid-Werkstatt“. Bereits vor der Geburt nehmen wir über die Muttermilch körpereigene Cannabinoide auf [16]. Dies zeigt, dass Cannabinoide uns durch alle Lebensphasen hinweg begleiten und uns (auch wenn wir es gar nicht wissen) alles andere als fremd sind.

Terpene, Cannabinoide und der Entourage-Effekt

Die therapeutische Wirkung von Cannabis wird nicht nur durch einzelne Wirkstoffe wie THC oder CBD bestimmt. Vielmehr spielen auch andere pflanzliche Inhaltsstoffe eine Rolle – insbesondere Terpene, die für das Aroma und die Vielfalt der Cannabissorten verantwortlich sind.

Diese Terpene können das ECS indirekt beeinflussen, z. B. durch Modulation der CB1- und CB2-Rezeptoren oder durch Wechselwirkungen mit den abbauenden Enzymen. Gemeinsam mit den Cannabinoiden können sie synergistische Effekte entfalten – ein Phänomen, das als Entourage-Effekt bekannt ist.

Potenzial für die medizinische Anwendung von Cannabis

Die Erkenntnisse über das ECS erklären die vielfältigen therapeutischen Einsatzmöglichkeiten von Cannabis. Die Erforschung des ECS könnte zudem helfen, die Cannabis-Therapie weiter zu optimieren und besser an individuelle Bedürfnisse anzupassen. Langfristig könnte dies möglicherweise auch unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit verändern und neue Perspektiven zur Behandlung sowie zur Prävention von Krankheiten eröffnen.

Darüber hinaus wird die neuroprotektive Rolle des ECS zunehmend erforscht – etwa im Kontext von Epilepsie, Multipler Sklerose oder neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer. Auch hier könnten Cannabinoide zukünftig eine wichtige therapeutische Rolle spielen.

Langfristig eröffnet die Erforschung des ECS nicht nur neue Behandlungsoptionen, sondern könnte auch unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit grundlegend erweitern.

Literaturverzeichnis

[1] Lowe H, Toyang N, Steele B, Bryant J, Ngwa W. The Endocannabinoid System: A Potential Target for the Treatment of Various Diseases. Int J Mol Sci. 2021 Aug 31;22(17):9472. doi: 10.3390/ijms22179472. PMID: 34502379; PMCID: PMC8430969. 

[2] Stampanoni Bassi, M.; Gilio, L.; Maffei, P.; Dolcetti, E.; Bruno, A.; Buttari, F.; Centonze, D.; Iezzi, E. Exploiting the Multifaceted Effects of Cannabinoids on Mood to Boost Their Therapeutic Use Against Anxiety and Depression. Front. Mol. Neurosci. 2018, 11, 424.

[3] Wu J. Cannabis, cannabinoid receptors, and endocannabinoid system: yesterday, today, and tomorrow. Acta Pharmacol Sin. 2019 Mar;40(3):297-299. doi: 10.1038/s41401-019-0210-3. Epub 2019 Jan 22. PMID: 30670816; PMCID: PMC6460362.

[4] Preteroti M, Wilson ET, Eidelman DH, Baglole CJ. Modulation of pulmonary immune function by inhaled cannabis products and consequences for lung disease. Respir Res. 2023 Mar 28;24(1):95. doi: 10.1186/s12931-023-02399-1. PMID: 36978106; PMCID: PMC10043545. 

 [5] Low ZXB, Lee XR, Soga T, Goh BH, Alex D, Kumari Y. Cannabinoids: Emerging sleep modulator. Biomed Pharmacother. 2023 Sep;165:115102. doi: 10.1016/j.biopha.2023.115102. Epub 2023 Jul 3. PMID: 37406510. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0753332223008934?via%3Dihub (Stand: 19.09.2024)

 [6] Lowe H, Toyang N, Steele B, Bryant J, Ngwa W. The Endocannabinoid System: A Potential Target for the Treatment of Various Diseases. Int J Mol Sci. 2021 Aug 31;22(17):9472. doi: 10.3390/ijms22179472. PMID: 34502379; PMCID: PMC8430969.

[7] S. C. Smith and M. S. Wagner, “Clinical endocannabinoid deficiency (CECD) revisited: can this concept explain the therapeutic benefits of cannabis in migraine, fibromyalgia, irritable bowel syndrome and other treatment-resistant conditions?” Neuroendocrinology Letters, vol. 35, no. 3, pp. 198–201, 2014. 

[8] Henson JD, Vitetta L, Quezada M, Hall S. Enhancing Endocannabinoid Control of Stress with Cannabidiol. J Clin Med. 2021 Dec 14;10(24):5852. doi: 10.3390/jcm10245852. PMID: 34945148; PMCID: PMC8704602. 

[9] Russo EB. Clinical Endocannabinoid Deficiency Reconsidered: Current Research Supports the Theory in Migraine, Fibromyalgia, Irritable Bowel, and Other Treatment-Resistant Syndromes. Cannabis Cannabinoid Res. 2016 Jul 1;1(1):154-165. doi: 10.1089/can.2016.0009. PMID: 28861491; PMCID: PMC5576607.

[10] Aran A, Eylon M, Harel M, Polianski L, Nemirovski A, Tepper S, et al. Lower circulating endocannabinoid levels in children with autism spectrum disorder. Mol Autism. 2019;10:1-11.

[11] Giuffrida A, Leweke FM, Gerth CW, Schreiber D, Koethe D, Faulhaber J, Klosterkötter J, Piomelli D. Cerebrospinal anandamide levels are elevated in acute schizophrenia and are inversely correlated with psychotic symptoms. Neuropsychopharmacology. 2004 Nov;29(11):2108-14. doi: 10.1038/sj.npp.1300558. PMID: 15354183.

[12] Bourke SL, Schlag AK, O'Sullivan SE, Nutt DJ, Finn DP. Cannabinoids and the endocannabinoid system in fibromyalgia: A review of preclinical and clinical research. Pharmacol Ther. 2022 Dec;240:108216. doi: 10.1016/j.pharmthera.2022.108216. Epub 2022 May 21. PMID: 35609718.

[13] NIDA. 2021, April 13. How does marijuana produce its effects? URL: https://nida.nih.gov/publications/research-reports/marijuana/how-does-marijuana-produce-its-effects (Stand: 19.09.2024)

[14] Di Marzo V. Targeting the endocannabinoid system: to enhance or reduce? Nat Rev Drug Discov. 2008 May;7(5):438-55. doi: 10.1038/nrd2553. PMID: 18446159.

[15] Scherma M, Muntoni AL, Riedel G, Fratta W, Fadda P. Cannabinoids and their therapeutic applications in mental disorders. Dialogues Clin Neurosci. 2020 Sep;22(3):271-279. doi: 10.31887/DCNS.2020.22.3/pfadda. PMID: 33162770; PMCID: PMC7605020. 

[16] Datta P, Melkus MW, Rewers-Felkins K, Patel D, Bateman T, Baker T, Hale TW. Human Milk Endocannabinoid Levels as a Function of Obesity and Diurnal Rhythm. Nutrients. 2021 Jul 3;13(7):2297. doi: 10.3390/nu13072297. PMID: 34371807; PMCID: PMC8308542.