Wenn klassische Therapien versagen
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen und verlaufen bei vielen Patient:innen chronisch oder therapieresistent. Laut dem Deutschland-Barometer Depression 2024 erlebt rund jede fünfte Person im Laufe ihres Lebens eine depressive Episode. Die Beschwerden reichen von gedrückter Stimmung und Antriebslosigkeit bis zu körperlichen Symptomen wie Schlafstörungen, Appetitmangel und Schmerzen.
Trotz medikamentöser und psychotherapeutischer Verfahren sprechen viele Betroffene nicht ausreichend auf herkömmliche Therapien an oder leiden unter starken Nebenwirkungen. In diesem Zusammenhang rückt medizinisches Cannabis als potenziell ergänzende Option zunehmend in den Fokus der Forschung – insbesondere bei Patient:innen mit therapieresistenter Depression.
Ein Schlüssel zur Stimmungsregulation?
Einer Schlüsselrolle kommt dabei dem körpereigenen Endocannabinoid-System (ECS) zu, da es an Prozessen wie Emotionsregulation, Stressverarbeitung, Schlaf und Neurotransmittergleichgewicht beteiligt ist. Es besteht aus den endogenen Liganden Anandamid (AEA) und 2-Arachidonoylglycerin (2-AG), den zugehörigen Rezeptoren CB1 und CB2 sowie den abbauenden Enzymen wie FAAH und MAGL.
Endocannabinoid-Mangel bei Depression
Studien zeigen, dass Patient:innen mit Major Depression signifikant reduzierte Spiegel an Anandamid und 2-AG aufweisen. Diese Defizite deuten auf eine Unterfunktion des ECS bei depressiven Erkrankungen hin. In einer Studie von Hill et al. zeigten depressive Frauen niedrigere AEA-Werte im Vergleich zur gesunden Kontrollgruppe [1].
Darüber hinaus fanden postmortale Untersuchungen eine erhöhte Dichte und Aktivität der CB1-Rezeptoren im präfrontalen Kortex von Suizidopfern mit Major Depression. Diese Hochregulierung gilt als kompensatorische Reaktion auf die erniedrigte Verfügbarkeit endogener Cannabinoide [2].
Bedeutung für Therapie und Regulation
Die enge Verbindung zwischen ECS-Dysfunktion und Depression lässt sich auch anhand externer Modulation zeigen: Körperliche Aktivität sowie Therapieverfahren wie Elektrokrampftherapie (EKT) führen zu einem messbaren Anstieg von Anandamid- und 2-AG-Spiegeln. Dies legt nahe, dass eine Aktivierung des ECS ein möglicher Wirkmechanismus antidepressiver Strategien sein könnte – einschließlich der Cannabinoid-Therapie.
Pflanzliche und körpereigene Cannabinoide
Cannabinoide lassen sich in drei Klassen unterteilen: endogene (z. B. Anandamid, 2-AG), pflanzliche (z. B. THC, CBD) und synthetische. Während endogene Liganden direkt in die neuronale Homöostase eingebunden sind, wirken pflanzliche Cannabinoide – insbesondere Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD) – als externe Modulatoren des Endocannabinoid-Systems.
THC aktiviert primär CB1-Rezeptoren im zentralen Nervensystem und kann dadurch sowohl euphorisierend als auch anxiolytisch oder stimmungsaufhellend wirken [1]. CBD hingegen entfaltet seine Wirkung über andere Rezeptorsysteme (z. B. 5-HT1A) sowie durch die Hemmung des FAAH-Enzyms, was zu einer Erhöhung des Anandamid-Spiegels führt [2]. Damit können pflanzliche Cannabinoide indirekt Defizite im ECS ausgleichen – insbesondere bei depressiven Störungen mit Endocannabinoid-Mangel [3].
Synergieeffekte bei der Behandlung von Depressionen
Neben Cannabinoiden enthalten medizinische Cannabissorten auch Terpene, die das Wirkprofil wesentlich mitbestimmen. Zahlreiche Terpene besitzen selbst neuroaktive Eigenschaften oder verstärken durch den sogenannten Entourage-Effekt die Wirkung von THC und CBD [4].
Laut aktuellen Erkenntnissen kommen bei depressiven Beschwerden insbesondere folgende Terpene in Betracht:
- Limonen: stimmungsaufhellend, anxiolytisch (aktiviert serotonerge Signalwege) [5]
- Linalool: angstlösend, entspannend (GABA-erge Modulation, NMDA-Hemmung) [6]
- β-Caryophyllen: entzündungshemmend, stressmodulierend (CB2-Agonist) [7]
- Myrcen: sedierend, beruhigend (GABA-A-verstärkend, muskelrelaxierend) [8]
Die Kombination spezifischer Terpenprofile mit definierten THC- und CBD-Gehalten kann somit einen individualisierten therapeutischen Ansatz bei Depression ermöglichen. Dies erfordert eine gezielte Auswahl und Dokumentation der eingesetzten Cannabissorten – idealerweise in enger Abstimmung mit erfahrenen Ärzt:innen oder Apotheken mit Terpenanalyse.
Erfahrungen aus Studien zu medizinischen Cannabis bei Depressionen
Die aktuelle Studienlage zur Wirksamkeit von medizinischem Cannabis bei Depressionen ist umfangreich – mit teils vielversprechenden, aber methodisch noch begrenzten Daten. Die meisten vorliegenden Studien sind Beobachtungsstudien, Fallserien oder Registerauswertungen, randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) sind bislang selten.
Hinweise aus retrospektiven Studien und Naturalistic Data
Eine Längsschnittstudie unter Patient:innen mit behandlungsresistenter Depression zeigte, dass die Gabe von medizinischem Cannabis über 18 Wochen zu einer signifikanten Reduktion der depressiven Symptomatik führte – bei gleichzeitig guter Verträglichkeit und hoher Patientenzufriedenheit [9]. Über 50 % der Teilnehmenden erreichten eine mehr als 50-prozentige Verbesserung auf der Hamilton-Depressionsskala (HAM-D).
Ebenso berichteten mehrere Beobachtungsstudien, dass medizinischer Cannabiskonsum mit einer Verbesserung depressiver Symptome einhergehen kann – insbesondere bei gleichzeitiger Komorbidität von Angst oder Schlafstörungen [6][7].
Strainprint™-Datenbank: Inhalatives Cannabis bei Depression
Eine großangelegte Analyse von über 11.000 dokumentierten Cannabiseinnahmen aus der App Strainprint™ liefert weitere Hinweise: In 89,3 % der erfassten Konsumsituationen kam es zu einer Besserung depressiver Symptome. Am wirksamsten zeigten sich dabei Sorten mit hohem CBD-Gehalt (>9,5 %) und niedrigem THC-Gehalt (<5,5 %) [10].
Diese Daten legen nahe, dass Cannabisblüten mit spezifischen Cannabinoid- und Terpenprofilen therapeutisches Potenzial bei depressiven Zuständen besitzen – allerdings vornehmlich im Rahmen eines individualisierten, ärztlich begleiteten Einsatzes.
Meta-Analysen und systematische Reviews
Eine systematische Übersichtsarbeit von Walsh et al. (2017) untersuchte die psychischen Effekte von medizinischem Cannabis und identifizierte mehrere Studien, in denen Patient:innen über eine subjektive Verbesserung der Stimmung berichteten [6]. Auch eine Meta-Analyse von Kosiba et al. (2019) belegt die häufige Verwendung von Cannabis zur Selbstmedikation bei Depression, jedoch ohne verlässliche Aussagen zur Langzeitwirkung [7].
Wie Sie Cannabis bei Depressionen verantwortungsvoll einsetzen
Wenn Sie unter Depressionen leiden und sich für eine Cannabistherapie interessieren, sollten Sie der Auswahl geeigneter Wirkstoffe besonderes Augenemerk zukommen lassen.
Medizinisches Cannabis enthält vor allem zwei aktive Substanzen: Δ9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Beide beeinflussen zwar beide das körpereigene Endocannabinoid-System, jedoch auf unterschiedliche Weise – mit teils gegensätzlichen Effekten.
Während THC über die CB1-Rezeptoren kurzfristig stimmungsaufhellend wirken kann, ist dieser Effekt dosisabhängig und mit Risiken verbunden. Besonders bei höheren Dosierungen kann THC bei empfindlichen Personen Angst, Reizbarkeit oder paranoide Gedanken verstärken [6]. Bei Depressionen ist deshalb Vorsicht geboten. CBD hingegen entfaltet sein Potenzial sanfter und risikoärmer – es greift nicht direkt an CB1- oder CB2-Rezeptoren an, sondern wirkt indirekt regulierend: Zusätzlich aktiviert es vermutlich den 5-HT1A-Rezeptor, der auch bei klassischen Antidepressiva eine Rolle spielt [7]. Durch die Hemmung des FAAH-Enzyms kann es den Spiegel des „Glücksmoleküls“ Anandamid erhöhen.
Welches Cannabisprodukt hilft am besten gegen Depressionen?
In einer groß angelegten Strainprint™-Analyse wurden diese Wirkmeschanismen beobachtet und herausgefunden, dass Cannabisprodukte mit hohem CBD-Gehalt (>9,5 %) und niedrigem THC-Gehalt (<5,5 %) besonders effektiv bei der Reduktion depressiver Symptome waren [10]. Inhalative Produkte mit diesen Eigenschaften führten in fast 90 % der dokumentierten Konsumsituationen zu einer Besserung der depressiven Symptomatik.
Interessanterweise zeigten sich auch bei hohen THC-Werten (>26,5 %) positive Effekte auf die Stressreduktion – allerdings mit größerem Nebenwirkungsrisiko. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung einer individuell abgestimmten Cannabis-Therapie, die neben dem THC/CBD-Verhältnis auch die begleitenden Terpene berücksichtigt.
Vorsicht bei langfristigem Cannabiskonsum
Obwohl viele Patienten kurzfristig von der Einnahme medizinischer Cannabisprodukte profitieren, bleibt die Langzeitwirkung auf depressive Symptome Gegenstand intensiver Forschung. Insbesondere der regelmäßige Konsum von THC-reichen Produkten kann bei vulnerablen Personen langfristig zu einer Verschlechterung depressiver Symptome führen – insbesondere bei fehlender therapeutischer Begleitung.
Potenzielle Risiken einer Dauermedikation
Langfristiger Cannabiskonsum ist laut mehreren Studien mit einer veränderten Neurotransmitterbalance verbunden, darunter dopaminerge und glutamaterge Dysfunktionen. Diese können die Affektregulation beeinträchtigen und bestehende depressive Symptome verstärken. Zudem wurde bei chronischem Konsum eine verringerte Motivation („Amotivationales Syndrom“) und emotionale Abstumpfung beschrieben – Phänomene, die depressive Zustände maskieren oder intensivieren können [10].
Besonders kritisch ist dies im Kontext von Schlafstörungen, wie sie bei Depressionen häufig auftreten: Zwar kann medizinisches Cannabis anfänglich die Nachtruhe fördern und Spannungszustände lindern, doch eine langfristige Einnahme ohne engmaschige Begleitung birgt das Risiko, die Schlafarchitektur negativ zu beeinflussen – mit potenziell nachteiligen Effekten auf die depressive Symptomatik. Welche Rolle Cannabinoide wie THC und CBD im Zusammenhang mit der Schlafregulation spielen, zeigen aktuelle Erkenntnisse zum Einsatz von Cannabis bei Schlafstörungen.
Bedeutung der ärztlichen Begleitung
Eine engmaschige therapeutische Begleitung, idealerweise unter Einbezug von Psychotherapie, ist daher essenziell. Diese sollte nicht nur die Dosierung und Reaktion auf die Medikation überwachen, sondern auch frühzeitig unerwünschte Entwicklungen erkennen – etwa zunehmende Antriebslosigkeit oder kognitive Einbußen. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere bei vulnerablen Patient:innen mit affektiven oder psychotischen Vorerkrankungen eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung notwendig ist [6][7].
Literaturverzeichnis
[1] Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. 8. Deutschland-Barometer Depression: Depression betrifft die ganze Familie. Leipzig: Stiftung Deutsche Depressionshilfe; 2025.
[2] Hill MN, Miller GE, Ho WS, Gorzalka BB, Hillard CJ. Serum endocannabinoid content is altered in females with depressive disorders: a preliminary report. Pharmacopsychiatry. 2008;41(2):48–53.
[3] Hill MN, Miller GE, Carrier EJ, Gorzalka BB, Hillard CJ. Circulating endocannabinoids and N-acyl ethanolamines are differentially regulated in major depression and following exposure to social stress. Psychoneuroendocrinology. 2009;34(8):1257–1262.
[4] Scherma M, Muntoni AL, Riedel G, Fratta W, Fadda P. Cannabinoids and their therapeutic applications in mental disorders. Dialogues in Clinical Neuroscience. 2020;22(3):271–279.
[5] Mato S, Pilar-Cuéllar F, Valdizán EM, et al. Selective up-regulation of cannabinoid CB1 receptor coupling to Go-proteins in suicide victims with mood disorders. Biochemical Pharmacology. 2018;157:258–265.
[8] Denson TF, Earleywine M. Decreased depression in marijuana users. Addictive Behaviors. 2006;31(4):738–742.
[9] Specka M, Bonnet U, Schmidberg L, Wichmann J, Keller M, Scholze C, Scherbaum N. Effectiveness of medical cannabis for the treatment of depression: A naturalistic outpatient study. Pharmacopsychiatry. 2024;57(2):61–68.
[10] Cuttler C, Spradlin A, McLaughlin RJ. A naturalistic examination of the perceived effects of cannabis on negative affect. Journal of Affective Disorders. 2018;235:198–205.